Dienstag, 7. April 2009

Gedanken zu »Wissenschaft und Kunst«

im Rahmen der Vernissage zur Ausstellung »glacial«


Wo hört die Wissenschaft / die reine Dokumentation auf – wo fängt die Fotokunst an? Hat die Wissenschaft wirklich ein völlig anderes Ziel im Visier als die Kunst? Reicht es aus, zu sagen, die Wissenschaft strebe nach der Wahrheit, die Kunst jedoch nach der Schönheit?


Dies hört sich nach einer schön wohl geordneten Welt in Schwarz-Weiß an. Das eine kann nicht das andere sein. Wird dabei nicht etwas vergessen? Die Grauzone, die Schnittmenge, die Gemeinsamkeit beider Bereiche? Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman sieht die Schnittmenge von Wissenschaft und Kunst in der Intention / in der Absicht, die dem Tun des Wissenschaftlers und des Künstlers innewohnt. Goodmann sagt: „So sorgen die Kunst ähnlich wie die Wissenschaft für ein Erfassen neuer Beziehungen und Gegensätze, sie widersprechen verbrauchten Kategorien. Sie bringen neue Organisationen und neue Sehweisen unser Welten, in denen wir leben, hervor.“


Suchen wir heute in den Arbeiten von Bernhard Edmaier nach der Schnittmenge von Wissenschaft und Kunst. Hier steht Bernhard Edmaier. Er ist Geologe. Als Geologe möchte er die Entwicklungsgeschichte der Erde und ihre geologische Phänomene mit puren, unverfälschten und aussagekräftigen Bildern vermitteln. Sichtbare Spuren, die ein Phänomen auf der Erde hinterlässt, wie z.B. das Eis, hält er fest. Welche Erscheinungsformen eines Phänomens gibt es? Gibt es Gesetzmäßigkeiten, die sich wiederholen oder ergeben sich neue Organisationen innerhalb des Phänomens? Edmaier geht für seine Beobachtungen auf Distanz und fokussiert mit analytischem Blick das Phänomen. Wir als Betrachter müssen dem Blick des Fotografen folgen. Der Fotograf lässt aufgrund des fehlenden Horizonts in seinen Bildern ein oberflächliches Wandern des Blicks nicht zu. Ohne der Orientierungsmarke Horizont können wir uns nicht unserem gewohnten Sehverhalten hingeben. Wir müssen uns auf dieses neue Bild von der Erde einlassen, uns mit diesem Bild auseinandersetzen, wollen wir wissenschaftliche Informationen daraus ziehen.


Doch zeigen die Fotografien nicht auch eine zweite Welt? Eine Welt reiner Form. Komponiert aus den Grundelementen Punkt, Linie, Fläche, Körper und Raum, sowie Helligkeit, Farbe und Rhythmus. Scheinbar losgelöst von der gewollten Wiedergabe eines Naturvorbildes. Das Motiv erscheint nicht mehr als geologisches Phänomen. Es wird zum abstrakten Bild, in dem Linien gegen Flächen kämpfen, Konturen aufreißen und Farbflächen Schwerpunkte verschieben. Nichts ist zufällig, alles eine wohl durchdachte Komposition. Auch hier steht Bernhard Edmaier. Er ist Fotograf und Künstler. Als Fotokünstler experimentiert er mit der Möglichkeit unterschiedlicher Sichtweisen von Bildern und unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten unserer Welt. Er greift nicht in die Komposition ein. Er filtert jedoch aus der unendlichen Vielfalt von vorgegebenen Strukturen gezielt Erscheinungen heraus, die die Kraft eines autonomen, abstrakten Bildes besitzen. Bilder, die ihr Wesen selbst erklären.


Vielleicht ergeht es Ihnen beim Betrachten der Fotografien genauso wie mir. Ich stehe davor, bin fasziniert, dass es sich dabei tatsächlich um unverfälschte und unbearbeitete Fotografien von unserer Erde handelt. Trete an die Fotografie heran, suche mit forschendem Blick Gletscherspalten, Gletschermilch, Seen, die Tundra und versuche diese mit Hilfe meiner Bilder im Kopf in bekannte Gestalt umzuwandeln. Ein Suchspiel. Noch während des scheinbaren Begreifens und des Orientierens kippt plötzlich das gegenständliche Bild weg. Bekanntes verflüchtigt sich und es treten reine Formen zu Tage. Ich muss ein paar Schritte zurückgehen, um diese andere, abstrakte Struktur zu begreifen. Es ist einem Kippbild ähnlich, wie z.B. dem Rubinschen Becher – der einerseits als Becher, andererseits als zwei Profile, die sich zueinander zuwenden, erscheint. Ein Kippbild das zwei Interpretationen zulässt. Zuerst bevorzugt man eine Ansicht, die später durch einen zweiten Aspekt / eine zweite Ansicht ersetzt wird. Das Auge kippt vom forschenden Erfassen zum ästhetischen Erfassen und wieder zurück.


Als Betrachter befinden wir uns in ständiger visueller Bewegung. Die Fotografie baut mit ihrer Mehrdeutigkeit und den verschiedenen Sichtweisen ein ganz eigenes Spannungsfeld auf. Ein Spannungsfeld, das ohne die Grundlagen der Wissenschaft und den Elementen der Kunst nicht existent wäre. Nehmen wir jetzt Teil an dem Experiment des Fotografen, Künstlers und Geologen Bernhard Edmaier unsere Welt aus den verschiedensten Blickwinkeln neu zu entdecken. Unser Bild von der Erde wird danach ein völlig anderes sein.


Übrigens, die Fotografien von Bernhard Edmaier geben Nelson Goodman Recht, dass Wissenschaft und Kunst nicht zwei weit voneinander entfernte Welten sind, sondern dass beide mit dem gleichen Kraftstoff angetrieben werden: der Intention, mit dem Schaffen von neuen Blickwinkeln vorgegebene Kategorien zu sprengen und dadurch Phänomene, Objekte und Verhaltensweisen in neue Beziehung zueinander zu setzen.


Ines Auerbach M.A.



© ines auerbach 2009

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